Gedicht von Ester Ribeiro

Quelle: Quem somos NÓS - Gedichte, Gedanken und Bilder brasilianischer Strassenkinder

Dieses Gedicht wurde von Ester Ribeiro geschrieben. Josef Thalhammer führte ein längeres Gespräch mit ihr in der Nichtregierungsorganisation "Casa de Passagem" in Recife. Die damals Siebzehnjährige erzählt von ihrem Leben als Strassenmädchen und Prostituierte und überliess ihm das von ihr geschriebene Gedichte. Diese wurden in dem Buch "WER sind WIR (Quem somos NÓS) - Gedichte, Gedanken und Bilder brasilianischer Strassenkinder" veröffentlicht.

WER sind WIR

Quem somos nós

Wir schweigen,
Weil wir uns schuldig fühlen.
Wir kriechen still am Boden,
Weil wir Vieh genannt werden.
Der Tag vergeht, mit Schreien, mit Streiten um jemanden.
Du denkst, du bist schlecht erzogen.
Schliesslich, wer sind wir, wir Menschen der Strasse?
Etwa ein kleiner Samen, der vom Baum fällt,
Den jemand vergessen hat aufzubewahren,
Um einmal gesät zu werden?
Oder eine Person, von der Zeit vergessen,
Und doch in dieser Welt wiedergeboren?
Ein wildes Tier, dass das ganze Weltall in Angst versetzt,
Ein Streichholz, das sich entzündet und in weniger als
Einer Sekunde wieder verlöscht?
Ein trauriger Bettler, der auf der Strasse
Sein Überleben sucht?
Der Müll der Gesellschaft, die ihn verbrennt,
Ohne Mitleid?
Das Wasser des Flusses, der noch keine Strömung hat?
Das Blatt einer Pflanze,
Vertrocknet und heruntergefallen?
Oder sind wir das Symbol dieser Welt?
Aber niemals hat uns jemand Gelegenheit gegeben,
Daran zu glauben.
Deshalb haben wir noch ein versteinertes Lächeln,
Versteckt in der Zeit.
Ich würde gerne wissen, wer sind wir,
Vor allem, wer bin ich?

Das Gedicht von Ester Ribeiro, spricht allein für sich. Es ist eine spontane und ungeschminkte Sprache. Von den "Mädchenfrauen" wird immer wieder der Wunsch geäussert, diese Gesellschaft in Richtung Ausland zu verlassen.

Diese Tatsache ist eine scharfe Kritik an der brasilianischen Gesellschaft, in der diese Mädchen leben. Sie ist auch eine Aufforderung an eben dieser Gesellschaft, sich zu wandeln, damit diese Mädchen heute wirklich Mädchen und morgen voll verwirklichte und nicht unterdrückte Frauen sein können sagt Affonso Felippe Gregory.

SKB