Die Kindheit von Diego

Autor: Harald Gruber

Nacherzählt von Regina Karasch

Jedes Strassenkind hat seine eigene Geschichte

Armut und Gewalt zwingen die Kinder dazu, ihr Elternhaus zu verlassen

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Das Verhältnis von Diego zu seiner Familie ist von starken Widersprüchen geprägt! Seine Gefühle schwanken zwischen grosser Sehnsucht und Liebe bis hin zu schrecklichen Erinnerungen an das Elend und die Gewalt zu Hause.

Geboren wurde ich irgendwo im Norden Brasiliens. Da hatte mein Vater früher eine kleine Farm. Aber dann kamen Männer mit Gewehren und haben gesagt, dass das Land gar nicht uns gehören würde, sondern dem „Patron". Sie drohten meinen Eltern mit den Gewehren: Wenn wir nicht am nächsten Tag verschwunden wären, würden sie unsere Hütte anzünden. Meine Eltern haben unsere Hühner und das andere Zeug mitgenommen, was man so tragen konnte, und sind mit uns weggegangen. Was sollten sie auch machen? Alles abfackeln lassen? Trotzdem bin ich heute noch manchmal wütend auf meinen Vater. Ich war zwar noch ziemlich klein damals, vielleicht sieben oder acht, aber daran erinnere ich mich noch genau: Er hat immer nur auf den Boden geschaut, hat die Männer nicht mal angesehen! Und nichts gesagt, gar nichts. So viel Angst hatte er.

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Wir sind dann so 'rumgezogen, haben immer nur einige Monate an einem Ort gewohnt, weil mein Vater Wanderarbeiter war. Wenn die Ernte vorüber war und der Patron keine Arbeit mehr für ihn hatte, sind wir weitergezogen. Aber während der Ernte, da mussten wir alle mit 'ran: meine Mutter, meine Schwester, meine Brüder und ich. Sonst hätte mein Vater das Soll nicht geschafft und wäre gleich 'rausgeflogen. Wir haben Tabakblätter gepflückt und Kaffeekirschen, Baumwolle und Bananen, und manchmal musste ich auch bei den Rindern helfen - was gerade so kam. Vor allem für meine Schwester war das schwer. Die war ja erst drei, vier Jahre alt und ist oft unter den Kaffeesträuchern eingeschlafen, so müde war sie.

Zur Schule gehen konnte ich zu dieser Zeit natürlich nicht, weil ich meinen Eltern eben helfen musste. Ausserdem waren wir sowieso nie lange an einem Ort.

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Nach zwei Jahren hatten es meine Eltern wohl satt. Dieses Herumziehen, meine ich. Meine Mutter hat gesagt, dass uns die Patrones nur ausnutzen: entweder haben sie meinem Vater zu wenig Geld ausgezahlt, oder sie wollten ihm nur Lebensmittel geben und gar kein Geld. Und dann die Aufseher: Entweder du hast ihnen etwas Geld zugesteckt, oder sie haben dem Patron erzählt, du hättest etwas geklaut oder wärst faul gewesen. Und dann durftest du am nächsten Tag nicht mehr arbeiten.

Also, wir sind dann nach Recife gezogen, in die grosse Stadt. So was hatten wir alle noch nie gesehen: Zuerst die Hüttenstädte, Bruchbuden aus Kartons und Blech und Plastikplanen und dann so viele richtige Häuser und Strassen und Geschäfte und Autos und gut gekleidete Menschen. Und dieser Lärm überall. Ich weiss noch, wie wir am ersten Tag rumgelaufen sind, immer nur rumgelaufen, immer neue Strassen, immer nur Krach und Autos und Häuser. Wir wussten nicht, wo wir bleiben sollten und irgendwann haben wir uns dann in den Hof hinter einem Geschäft gelegt und geschlafen. Am nächsten Tag sind wir weitergezogen, bis wir wieder zu einer Hüttenstadt kamen, die am Stadtrand liegt. Dort haben meine Eltern auch eine Hütte gebaut. Aus Pappkartons und Plastiktüten. Irgendwo, wo es ein kleines freies Stück Land gab.

Meine Eltern hatten gedacht, dass es in der grossen Stadt leichter sein würde, eine Arbeit zu finden. Aber mein Vater hat sich die Hacken abgelaufen und nichts Richtiges gefunden. Meine Mutter hat begonnen, für reichere Leute Wäsche zu waschen, und mein Bruder Paulinho und ich haben den Händlern auf dem Markt geholfen, ihre Kisten und Körbe mit Gemüse und Obst zu schleppen. Dafür kriegten wir zwar kein Geld, aber wir durften abends etwas zu essen mit nach Hause nehmen. Bald nahmen wir auch meinen kleinen Bruder mit zum Markt - meine Schwester Maria kochte dann für uns alle und wusch unsere Sachen. Meinem Vater passte das alles nicht. Er war der einzige, der kaum etwas verdiente. Erst hat er angefangen zu trinken und meine Mutter zu schlagen, und dann war er plötzlich weg.

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Die Arbeit auf dem Markt war hart und nicht ganz ungefährlich. Manchmal lauerten uns grössere Jungen auf, wenn wir nach Hause gingen, und nahmen uns das Essen ab. Dann mussten wir hungrig schlafen gehen. Schliesslich kam ein Junge von vielleicht 17 Jahren - Huberto - und bot uns seinen Schutz an. Er würde dafür sorgen, dass wir immer heil nach Hause kämen - aber dafür müssten wir ihm Geld geben. Wir hatten keine andere Wahl. Huberto war stark. Von nun an kassierten er oder sein Bruder jede Woche ein paar Reais von uns - aber es stimmte: Wir brachten unser Essen immer heil nach Hause.

Es war eine ganze Gruppe von Kindern, die für Huberto arbeiteten. Irgendwann nahm er mich beiseite und fragte, ob ich nicht mal „richtiges Geld" verdienen wollte. Ich ging mit und stand Schmiere, als Huberto und ein paar andere einen Mann überfielen. Einen, der einen schicken Anzug anhatte und eine goldene Uhr trug. Von dem, was er in der Tasche hatte, bekam ich auch etwas ab. Nicht viel, verglichen mit den anderen, aber ich hatte noch nie so viel Geld in der Hand gehabt. Ja, so hat es angefangen. Von da an liess ich meine Brüder die Arbeit auf dem Markt allein machen und arbeitete mit Huberto. Meine Mutter durfte nichts wissen, aber irgendwann merkte sie doch etwas. Schliesslich schaffte ich es manchmal abends nicht mehr bis in unsere Favela und schlief mit den anderen in Hinterhöfen oder Hauseingängen.

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Huberto passte immer gut auf uns auf. Er fand immer sichere Schlafplätze für uns und stellte zusätzlich Wachen auf. Nie sind wir überfallen worden. Ab und zu gab's mal Kämpfe mit einer anderen Gang, und das ging dann schon mal bis auf die Knochen. Aber wir waren immer die Stärkeren. Natürlich mussten wir das tun, was Huberto sagte, aber das ist ja klar. Er hatte niemals Angst. Wenn ihm einer dumm kam, hat er ihn nur scharf angeguckt - so angefunkelt. Das reichte meistens schon. Ich ging nur noch selten zu meiner Mutter und den Geschwistern in die Favela, aber wenn ich ging, konnte ich ihnen immer etwas Besonderes mitbringen. Zum Essen oder zum Anziehen, oder ich gab Mutter Geld. Sie hat nie gefragt, wo ich blieb oder was ich tat, ich glaube, sie wollte gar nichts wissen. Das war sicher auch besser so - ich glaube nicht, dass sie mit Stehlen, Raubüberfällen oder Drogenhandel zu tun haben wollte.

... Irgendwann begannen uns Leute auf unserem Platz zu besuchen, die einfach nur so bei uns sitzen und mit uns reden wollten. Das war erst ziemlich nervig, aber mit der Zeit merkten wir, dass sie eigentlich ganz in Ordnung waren. Sie brachten den Kleineren aus unserer Gruppe etwas zum Malen mit, uns Älteren schon mal Zigaretten oder ein neues T-Shirt. Wir kriegten schliesslich heraus, dass sie „Sozialarbeiter" waren und von der Kirche angestellt sind, um sich um solche, wie wir es waren, zu kümmern. Richtig interessiert habe ich mich erst für sie, als ich merkte, dass sich Huberto gern mit Marcus und Iracyla unterhielt. Dass es ihn wurmte, wenn er sich von ihnen die Zeitung vorlesen lassen musste, weil er selbst kaum lesen konnte. Und es standen wirklich interessante Sachen darin. Zum Beispiel über ein neues Gesetz für Kinder und Jugendliche in Brasilien, dass wir mehr Rechte haben sollten. Zuerst haben wir gelacht - denn wer kümmert sich schon um die „Rechte" von Strassenkindern? Aber Marcus und Iracyla haben uns erklärt, dass wir einen Anspruch zum Beispiel auf Essen, Unterkunft, Schule und Berufsausbildung haben, und wo wir hingehen müssten, um das auch zu kriegen, was uns zusteht. Aber was viel wichtiger war: Sie sind schliesslich mitgegangen, zum Kinder- und Jugendrat von Recife. Und sie haben uns auch erzählt, dass sich schon viele Strassenkinder in Brasilien zusammengetan hätten zur „Bewegung der Strassenkinder".

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Jedenfalls haben wir es geschafft: Wir leben jetzt in einem Zentrum am Stadtrand von Recife, Huberto, sieben andere aus unserer Gruppe und ich. Es wollten gar nicht alle weg von der Strasse - vielleicht haben manche auch gehofft, den Platz von Huberto als Chef der Gruppe einnehmen zu können. Aber mich hat es gereizt: irgendwann doch einmal einen richtigen Beruf zu haben und nicht mit viel Angst und manchmal leerem Magen auf der Strasse schlafen zu müssen. Hier im Zentrum gehe ich jetzt zur Schule - zum ersten Mal in meinem Leben. Ich lerne lesen und schreiben und rechnen - und später kann ich auch einen Beruf lernen. Vielleicht Elektrotechniker, das bringt sicher Geld ein. Zu reparieren gibt es immer etwas in der Favela. Und vielleicht kann ich dann auch eine eigene Familie haben - mit Kindern, die nicht auf der Strasse leben müssen.

SKB